Vom Büro- zum Denkraum

Überlegungen zu Kreation und Wirtschaft

In der Gedankenwelt des Alltags sind die Berührungspunkte von Kunst und Wirtschaft spärlich. Der Leser einer Tages­zeitung weiß genau, dass die dem Feld der Ökonomie zugehörigen Dinge im Wirtschaftsteil verhandelt werden, die der Kunst im Feuilleton. Die einzige in diesem Kontext etablierte Schnittstelle ist der Kunstmarkt, wo die bildenden Künste als Wirtschaftsfaktor ganz explizit Thema sind. Zumal in den gegenwärtigen Zeitläufen, wo täglich neue Krisennachrichten den „Euro-Raum“ erschüttern, ist die Ware Kunst gefragter denn je. Wo nicht einmal der vordem für unerschütterlich gehaltene Goldpreis von Erschütterungen frei ist, werden Kunstwerke zu gesuchten Kapitalanlagen.

Doch die wirtschaftlichen Erschütterungen wirken auch in anderer Weise auf die Künste und das Feuilleton ein, indem diese zum Forum der Kritik an der zunehmenden Ökonomisierung der Welt werden. Wo vordem die Behauptung mangelnder Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge Künstlern, Literaten und anderen ökonomischen Laien die diskursive Beteiligung an der Behandlung ökonomischer Fragen verwehrte, greift zunehmend die Einsicht Raum, dass auch wirtschaftswissenschaftliche Diskussionen weniger Antworten als Fragen produzieren. Aus Sicht des eher im Feuilleton versierten Laien erhob die Ökonomie, als wissenschaftliche Disziplin mit langer Tradition, zumindest im Bereich der empirisch argumentierenden Betriebswirtschaft den Anspruch auf eine aus Exaktheit resultierende Wahrhaftigkeit. Doch die hat sich im allgemeinen Glauben und Meinen völlig verloren. Und wo die Teleologie szientistischer Begründungslogik versagte, schlug die Stunde des Feuilletons. Was momentan in der Welt geschieht, ist zu komplex, um sich einer linearen Gedankenordnung unterzuordnen. Denn zum traditionellen Bestand künstlerischen Denkens und geisteswissenschaftlichen Argumentierens gehören die Zweifel am Wahrheitsanspruch linear argumentierender Begründungslogik. Und jeder neue Beweis für das Scheitern aller vermeintlich sicheren, weil wissenschaftlich fundierten Prognosen erhöht das Interesse an philosophischen und künstlerischen Konzepten, die sich freiwillig der Sicherheit systematischer Lösungsansätze begeben.

Prof. Dr. Nils Büttner lehrt an der staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart.

Die Idee, dass Kunst als Mittel zur Bewältigung zivilisatorischer Krisen taugt, hat eine lange Tradition. So waren zum Beispiel die künstlerischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts von der Idee beseelt, die Menschheit mittels ästhetischer Interventionen zu bessern. Es sollte dem positivistischen 19. Jahrhundert vorbehalten bleiben, Kunst und Leben derartig in einem Ursache-und-Wirkung-Prinzip zu denken. Doch bleibt fraglos die Idee fruchtbar, mittels Kunst mehr oder weniger unmittelbar auf das menschliche Denken einzuwirken. Ohne damit die gegen solche Zuschreibungen sich sperrende Kunst in einen Funktionszusammenhang zwingen zu wollen, eröffnen sich hier ästhetische und intellektuelle Möglichkeiten. Denn künstlerisches Denken und Handeln fügt sich nicht in die vermeintlich unumstößlichen Regeln der Alltagslogik.

Kunst ist stets ein Appell an den Möglichkeitssinn. Über ihn hat Robert Musil in seinem 1930/32 entstandenen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ philosophiert: „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Eine solche gleichsam künstlerisch zu nennende Haltung eröffnet dem Denken neue Perspektiven. Dazu könnte beispielsweise die logische Einsicht zählen, dass wir stets nur die Fragen entscheiden können, die prinzipiell unentscheidbar sind. Denn alle entscheidbaren Fragen sind ja schon durch die Spielregeln des Diskurses entschieden, durch die Regeln, nach denen Fragen gestellt und Ant­worten gegeben werden. Die Frage zum Beispiel, ob die Zahl 1.258.534.288 durch die Zahl ohne Rest teilbar ist, ist nicht schwieriger zu entscheiden, wenn die zu teilende Zahl nicht zehn Stellen hat, sondern eine Million oder eine Milliarde. Das übersteigt zwar gegebenenfalls die Leistungsfähigkeit des heimischen Taschenrechners, ist aber lösbar und mithin entschieden. Es mag länger dauern oder auch einmal schneller gehen, bis sich die entschei­dende Antwort auf eine Frage ergibt, doch sie ergibt sich eben. Nicht wir geben die Antwort, sie ergibt sich mit zwingender Logik. Nur bei prinzipiell unentscheidbaren Fragen verliert dieses Gesetz seine Gültigkeit und selbst der Zwang der Logik erlischt. Doch bringt die Freiheit der Antwort zugleich eine Verantwortung der Entscheidung mit sich.

Meeting Point “Zählen”

Indem die Kunst in den Alltag Einzug hält, wird aus einem bloßen Gedankenspiel ein ästhetischer Resonanzraum für den als utopisches Potenzial wirkenden Überschuss künstlerischen Denkens. Bau und Einrichtung von Firmengebäuden sind in der Regel in der Hand von Architekten. In der Regel verständigen sie sich bei Architektur und Ausstattung mit ihren Auftraggebern auf einen dekorationsarmen Stil von schnörkelloser Sachlichkeit. Schlicht und modern heißt die Devise, deren Ideal von den künstlerischen Reformern vom Beginn des 20. Jahrhunderts beispielhaft verwirklicht wurde. Was einst als normative Antwort auf den Historismus des 19. Jahrhunderts intendiert war, ist seither zur letztgültigen Antwort auf eine erstmals 1828 gestellte Frage geworden: „In welchem Style sollen wir bauen?“ Heute scheint die Antwort klarer denn je. Das Makartbouquet, das am Ausgang des 19. Jahrhunderts als krönender Beweis von Geschmackssicherheit galt, ist ein für alle Mal verschwunden. Seine Signalfunktion hat stillschweigend die 1924 von Wilhelm Wagenfeld entworfene Tischlampe WG24 übernommen. Die mit einem eigenen Wikipedia-Eintrag geehrte „Bauhaus-Leuchte“ erfüllt abertausendfach reproduziert in beinahe uniform möblierten Wohnräumen und Büros neben dem Lichtspenden die Funktion, das Stilbewusstsein der Bewohner unter Beweis zu stellen. Die Einrichtungsindustrie hält für Firmen und Privathaushalte die massenhaft in Fernost reproduzierten Nachbauten der Freischwinger Marcel Breuers oder der Barcelona-Sessel Ludwig Mies van der Rohes zu moderaten Preisen bereit. Ganz unversehens wird dann aus dieser vermeintlich zeitgemäßen Übersetzung Mies van der Rohes ein "schlecht-und-von-der-Stange". Und während der Historismus des 19. Jahrhunderts nach wenigen Jahrzehnten von einer „Art nouveau“ abgelöst wurde, jener neuen Kunst, die man im Deutschen „Jugendstil“ nennt, feiert die nicht minder historistische Bauhaus-Rezeption auch nach hundert Jahren fröh­liche Urständ, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Die Hartnäckigkeit des Festhaltens an diesem historischen Stil verwundert umso mehr, weil der Bauhaus-Historismus einem verbreiteten Streben nach „Gemütlichkeit“ zuwiderläuft, die man eher dem historistischen Wohnambiente des 19. Jahrhunderts zuzubilligen geneigt ist. Es erweist sich in dem verzweifelten Bemühen, dem sachlich-kühlen Ledersofa mit flauschiger Wolldecken und mittels Handkantenschlägen getrimmter Kuschelkissen eine Heimeligkeit abzunötigen, die zum schreienden Stilbruch wird. Noch weniger will Wohnlichkeit sich in den branchenübergreifend gesichtslosen Büros einstellen, denen wohl kaum ein fühlender Zeitgenosse ein inspirierendes Ambiente attestieren würde. Auch die immer artenreicher werdende Büroflora vermag diesen in ihrer Austauschbarkeit tristen Nicht-Orten kein Leben einzuhauchen. Den fraglos lässt sich auch auf Büros der von dem französischen Anthropologen Marc Augé geprägte Begriff des „non-lieu“ (engl. „non-place“), des „Nicht-Ortes“ anwenden. Er beschreibt Nicht-Orte als zumeist monofunktional genutzte Räume im urbanen und suburbanen Kontext, zu denen Einkaufszentren oder Autobahnen genauso gehören wie Bahnhöfe, Flug­häfen und Bürokomplexe. Im Unterschied zu den traditionellen Orten fehlt diesen gesichtslosen und in ihrer Uniformität austauschbaren Plätzen auch durch die kommunikative Verwahrlosung jede Relation und Identität, vor allem aber eine Geschichte und Individualität. Betritt man einen modernen Bürokomplex, möchte man mit dem Famulus aus Goethes „Faust“ stöhnen:

„Es ist ein gar beschränkter Raum, Man sieht nichts Grünes, keinen Baum, Und in den Sälen, auf den Bänken, Vergeht mir Hören, Sehn und Denken!“

Im modernen Büro kann Kunst zu einem wirkmächtigen Antidot werden. Anders als die Moden des vermeintlich überzeitlichen guten Geschmacks duldet die Kunst keinen Stillstand. Kunst schafft Orte, indem sie sogar unspezifischen und austauschbaren Räumen Individualität und Einzigartigkeit verleiht. Und selbst wo die künstlerischen Räume als Orte der Kunst vorderhand unbemerkt bleiben, wirken sie auf ihr Publikum. Kunst bewirkt stets eine subjektive Reaktion des Betrachters, der sich einzulassen bereit ist. Und gute Kunst wirkt selbst da, wo der Wille zum Dialog erst geweckt werden muss. Man könnte fast versucht sein, in dieser stimulierenden Wirkung ein ästhetisches Qualitätskriterium zu sehen. Zumindest mag es lohnen, im eigenen Erleben die Probe aufs Exempel zu machen.

Für die Kunst bedeutet es dabei ein nicht zu unterschätzendes Risiko, auf ihren angestammten Ort zu verzichten. Wo sie nicht im Kontext von Museum oder Galerie auftritt, muss sie sich gegebenenfalls gegen Orte behaupten, die ihr Publikum dermaßen konditionieren, dass dessen Sinne für die Wahrnehmung des eigenen Umfeldes erlahmen. Doch dieses Risiko zahlt sich aus. Wo die Kunst sich behauptet, weckt sie Gefühle für das eigene Dasein, die subjektive Erfahrungen ermöglichen und fordern. Unabhängig davon, ob diese Reaktion Affirmation oder Ablehnung provoziert, lädt sie doch in jedem Fall zur Kommunikation ein. Ob in der stummen Zwiesprache des Selbstgesprächs oder im Dialog mit anderen, es resultieren daraus Anstöße für das Fühlen und Denken. Es versteht sich, dass dabei nicht von einem simplen Prinzip von Ursache und Wirkung auszugehen ist, sondern von einer Wechselbeziehung, die sich so wenig generalisierend beschreiben wie unmittelbar monetisieren lässt. Aber genau das ist es ja, was das Experimentieren an den Berührungspunkten von Kunst und Industrie auch und gerade in Zeiten der Krise spannend macht.